Wo sind die Vorbilder?

Veröffentlicht am 12. April 2020 von Hugo Schmidt

Schon häufiger habe ich mir die Frage gestellt, ob ich ein Vorbild in meinem Leben habe. Wenn ich eine einzige Person nennen müsste, würde mir niemand einfallen, in dem ich eine Vorbildrolle sehe. Niemand, dessen Leben ich mit meinem direkt vergleichen könnte und an dem ich mich orientieren und mich von ihm inspirieren lassen könnte. Doch woran liegt das?

In den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, im Film, in der Musik, in der Mode, in der Wissenschaft – nirgends scheint es jemanden zu geben, der als Mensch mit Behinderung über Dinge sprechen kann, die nicht direkt oder indirekt mit dem Thema Behinderung zu tun haben. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der seit einem Anschlag querschnittsgelähmt ist, und der Physiker Stephen Hawking, bei dem im jungen Alter ALS diagnostiziert worden war, scheinen zwei der viel zu wenigen Ausnahmen zu sein.

Ist es also im 21. Jahrhundert immer noch so, dass Frauen nur über Frauen, Männer nur über Männer und Behinderte nur über Behinderte sprechen dürfen? Ist es so abwegig, dass ein blinder Journalist über Musik schreibt anstatt darüber, wie er „sein Leben trotz Behinderung meistert“? Wäre es so abwegig, dass eine Frau im Rollstuhl Mitglied des Aufsichtsrates eines DAX-Unternehmens ist? Oder ist es so unvorstellbar, dass ein gehörloser Mann als Schauspieler nicht auf seine Behinderung reduziert wird?

Wenn ich als Kind Fernsehen geguckt habe, dann war da ein Thomas Gottschalk, der samstags abends um 20:15 Uhr live Fernsehunterhaltung für Millionen von Menschen gemacht hat. Und ein Schauspieler wie Johnny Depp spielte den exzentrischen Schokoladenfabrikanten Willy Wonka. Oder Oscarpreisträger Dustin Hoffman schlüpfte in die Rolle eines Spielwarenhändlers in New York. Ich fand das alles extrem spannend. Nach diesen Filmen und Shows wurde mein Kinderzimmer zum Fernsehstudio und ich habe selbst Regie geführt oder habe mit Playmobil Karrieren gespielt, von denen ich dachte, dass sie mir, als Junge mit einer Muskelerkrankung, nicht vorbehalten seien. Ich dachte das nicht nur, ich akzeptierte es in meiner kindlichen Naivität als eine Art gesellschaftliche Norm – so wie ich meine Behinderung als solche akzeptierte.

Interessant ist, dass mir später allmählich aufgezeigt wurde, dass es doch nicht so abwegig scheint. Mit dem Blick nach England oder in die USA, wo ein Stephen Hawking als einer der berühmtesten Physiker Bestseller veröffentlichte und mit Hilfe eines Sprachcomputers Vorträge hielt, Interviews gab und zu einer Ikone der modernen Wissenschaft stilisiert wurde, ist mir mit etwa 12 oder 13 bewusst geworden, dass vielleicht doch nicht alles so eingefahren ist, wie ich dachte. Auch eine Jillian Mercado bricht mit dem Rollenverständnis, dass Behinderte nur über ihre Behinderung oder ihr Leben mit Behinderung in den Medien sprechen. 2014 wird die New Yorkerin als erstes Model mit Behinderung Teil einer DIESEL Kampagne. Die seit ihrer Kindheit querschnittsgelähmte Ali Stroker gewinnt 2019 als erste Schauspielerin im Rollstuhl den begehrten Tony-Award für ihre Rolle in dem Broadwaymusical Oklahoma und hat damit auch mich zum Um- und Weiterdenken gebracht.

Natürlich haben sich die Dinge verändert. Das Fernsehen spielt nicht mehr die Rolle, die es noch vor zehn Jahren gespielt hat. Doch könnten Sender, meiner Meinung nach, durchaus Unterhaltungswert und Quoten gewinnen, wenn man sich von dem Schubladendenken verabschieden würde. Ein Umdenken bei den Programminhalten hin zu mehr Vielfalt durch Inklusion, sowohl beim linearen Fernsehen als auch in Sachen online Content ist auch in Deutschland denkbar und wäre wünschenswert!

Vielleicht können dann ja auch Film- und Theaterregisseur*innen allmählich bei einem Blick über den großen Teich mehr als nur Ideen für schlechte Geschichten vor ihre Kameras und auf ihre Bühnen bringen. Und möglicherweise heißt uns dann auch ein*e Sprecher*in mit einer sichtbaren Behinderung zur 20-Uhr-Tagesschau willkommen.

Dann könnte sich ein gehbehindertes Mädchen jemanden im Fernsehen sehen und sagen: „Das bin ich!“ Oder ein muskelkranker Junge könnte beobachten wie ein Journalist im Rollstuhl den Hollywood-Star interviewt. Dieser mediale Einfluss würde ihnen sicher nicht schaden und moderne Vorbilder für das 21. Jahrhundert schaffen!