Das Zweite – Meine erste Wahl

Veröffentlicht am 11. September 2022 von Hugo Schmidt

Vom Ministerpräsidenten, über Karl Lagerfeld bis hin zum ältesten Faultier der Welt – mehr Abwechslung kann man in einem beruflichen Alltag wohl kaum bekommen. Im Frühjahr 2022 war ich für drei Monate als Praktikant im ZDF-Landesstudio Nordrhein-Westfalen. Ich habe einen exklusiven Blick hinter die Kulissen von Live-Fernsehen bekommen, durfte Schauspieler und Politiker interviewen und selbst eigene Beiträge produzieren. Es war eine unglaublich spannende, interessante und lehrreiche Zeit.


Fünf Tage nach Putins Überfall auf die Ukraine, im Februar 2022, begann ich mein Praktikum im ZDF-Landesstudio Düsseldorf. Es war alles andere als eine angenehme geopolitische Lage und die Schatten des Krieges

reichten schnell bis an den Rhein. In diesen ersten Wochen hatte ich Gelegenheit, das Landesstudio und die teils komplizierten Abläufe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kennenzulernen. Das ZDF-Landesstudio sitzt

seit Anfang 2022 im Funkhaus des WDR am Rhein. Auf 3.000 gemieteten Quadratmetern verteilen sich Büro- und Produktionsflächen mit langen, hellen Fluren, grauen Teppichböden und türkisen Tür- und Fensterrahmen. Das moderne Gebäude aus den 1990ern spiegelt schlicht und dennoch eindrucksvoll den Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wider.


Ich selbst fand mich innerhalb dieser Bürowüste an einem Schreibtisch in einem Desk-Sharing-Raum wieder. In den ersten Tagen und Wochen arbeitete ich meinen Kolleg*innen zu, recherchierte oder fragte mögliche

Protagonist*innen für Interviews an. Nebenher hielt ich Ausschau nach spannenden Themen, die sich meiner unerfahrenen Meinung nach, gut für Beiträge eigneten. Nach und nach „erweiterte sich mein Horizont“ und ich konnte ab und zu Kolleg*innen auf Drehs begleiten. Dabei war ich in den ersten Wochen immer noch, wie ein kleiner Junge, fasziniert von den Fernsehkameras und den orangenen ZDF-Mikrofonen, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.


Mein erster richtiger Einsatz kam dann überraschender als ich erwartet hatte. Auf dem Weg zu einem Dreh saß ich mit dem Kamerateam im Auto, als mich die Nachricht erreichte, dass mein Kollege Corona-positiv war.

Nun musste ich alleine das geplante Interview mit einem Müller führen. Es ging um den Getreidemangel durch den Krieg in der Ukraine. Mein Sprung ins kalte Wasser lief erfolgreich. Nicht dass es in irgendeiner Form kompliziert gewesen wäre, doch war es für mich eine aufregende Premiere.


Diese Feuertaufe war für mich und meine Entwicklung in der Redaktion extrem wichtig. Aufgrund meiner Behinderung begegnete ich in den ersten Tagen „falschen Berührungsängsten“, wie meine Chefin es formulierte. Die

Kolleg*innen waren alle sehr freundlich und offen, jedoch herrschte bei vielen Bedenken vor, inwieweit ich mit meiner manchmal etwas undeutlicheren Sprache z.B. Interviews führen könnte. Als ich dies schließlich bei der Mühle erfolgreich unter Beweis gestellt hatte, trat man mit einer Tiergeschichte an mich heran: Das

älteste Faultier der Welt war zum 20. Mal Vater geworden. Auf den ersten Blick scheint es unspektakulär, aber für meinen ersten „Alleinflug“ war es perfekt.


Vier Wochen nach meinem ersten Tag beim ZDF drehte ich also im Krefelder Zoo meinen ersten eigenen Beitrag. Ein Kameramann, ein Tonmann und ich begaben uns auf die Suche nach den schläfrigen Faultieren. Anschließend

folgte ein Interview mit der Pressesprecherin und einer Tierpflegerin. Mit über 30 Minuten Material konzipierte ich einen 2 minütigen Beitrag. Im Schnitt suchten die Cutterin und ich die passenden O-Töne, sortierten die Schnittbilder und bauten so das Stück. Danach folgte die Abnahme durch den verantwortlichen Sendungs-Redakteur und das Einsprechen des Textes. Eigentlich machen das die anderen Redakteur*innen selbst – in meinem Fall machte das ein Kollege. Es war ein besonderes Gefühl, als der „Debütbeitrag“, wie der Archivar mein erstes Stück nannte, schließlich ausgestrahlt wurde.


Bei meinem zweiten Beitrag kam ich als Praktikant fast an meine Grenzen – zeitweise dachte ich, ich hätte mich übernommen. Dabei hatte ich vorher noch Überzeugungsarbeit bei den verantwortlichen Redakteur*innen

geleistet um über Die Sorge um die Zukunft des Waldes berichten zu können. Für das Stück sprach ich im Teutoburger Wald mit einem freundlichen und unterhaltsamen Förster. Das sympathische Kamerateam – ein Ehepaar – drehte für mich in vier Stunden über 90 Minuten Material. Das Problem: Der Beitrag durfte nur 3 Minuten lang werden.


Als Anfänger hatte ich offensichtlich kein Gefühl für Zeit. Im Fernsehen geht es nicht um Minuten – man verhandelt um Sekunden. Für den Wald konnte ich 30 Sekunden extra rausholen. Nach mehreren Abnahmen,

Reklamationen und Verbesserungen stand endlich ein fertiges Stück. Es war eine stressige und anstrengende Entstehung. Aber auch diese etwas „mühsame Geburt“ war wichtig. Tatsächlich gab sie mir mehr Sicherheit. Sicherheit und eine gewisse Routine, soweit ich die als Praktikant überhaupt erlangen konnte, die ich nicht nur bei meinen vier eigenen Beiträgen brauchte.


Für das ZDF-Morgenmagazin wurde ich nach Köln geschickt, als der Nachlass von Karl Lagerfeld bei Sotheby’s unter den Hammer kam. Zwischen Lagerfelds Sonnenbrillen, seinem Bett und seiner umfangreichen Plakatsammlung fühlte man sich im Auktionshaus wie in einem seiner französischen Wohnsitze. Für den Beitrag interviewte ich neben der Geschäftsführerin von Sotheby’s-Deutschland auch einige Auktionsgäste, darunter viele, die den Modedesigner persönlich gekannt haben. Vielleicht war dieser Dreh mein heimliches Highlight der drei Monat.


Ein weiterer Auftrag des ZDF-MoMas führte mich an den roten Teppich vor der Lichtburg in Essen. Zu der Premiere ihres Debütfilms durfte ich Schauspielerin und Regisseurin Natja Brunckhorst und den Schauspieler Joachim

Król interviewen. Einer meiner letzten Einsätze war dagegen mit etwas mehr Adrenalin verbunden: Kurz vor der Landtagswahl im Mai 2022 bat mich meine Chefin zu einem Wahlkampftermin von Ministerpräsident Hendrik Wüst zu fahren. Auf dem Marktplatz des ostwestfälischen Herfords, mitten in einer Traube von hoch motivierten und lautstarken Jungen Union-Mitgliedern, fragte ich den Ministerpräsidenten nach seinen Chancen und Koalitionsabsichten. Der Medienprofi Wüst begegnete mir, wie jede*m Medienvertreter*in, umgänglich und spulte

dabei gleichzeitig seine bereits bekannten Antworten ab. Dennoch waren die drei Fragen für mich eine eindrucksvolle journalistische Erfahrung.


Wenige Tage später, am Wahltag, konnte ich beobachten, wie aus dem nordrhein-westfälischen Landtag ein riesiges Fernsehstudio wurde. WDR, ZDF und einige weitere Sender sendeten drei Stunden live aus dem Landtagsgebäude am Rhein. Bei Außentemperaturen von über 30 Grad war es für die vielen Beteiligten sichtlich nicht leicht, eine Sendung in der verglasten Lobby des Landtags zu produzieren. Bei den Proben liefen Ventilatoren und die Fenster

waren geöffnet. Später, bei der Livesendung, waren alle Fenster geschlossen und die Ventilatoren aus akustischen Gründen ausgeschaltet. Zu erleben, wie in dem riesigen Apparat der Live-Fernsehsendung, vom ZDF-Chefredakteur bis hin zu den Produktionsmitarbeitenden, jedes Zahnrad präzise ineinander griff, war für mich ein spannender und beeindruckender Abschluss meines Praktikums.


Drei Monate im ZDF-Landesstudio – eine Zeit, in der ich unglaublich viel gelernt und erlebt habe. Am Anfang stand das Wort „Eigeninitiative“. Ich musste lernen, über meinen eigenen Schatten zu springen und diese Chance zu nutzen: Beobachten, Lernen, selber machen. In der Landesredaktion konnte ich „Fernsehen“ als Handwerk kennenlernen und mir wurden einige journalistische Arbeitsweisen nähergebracht – Ein wichtiges und nachhaltiges Fundament für meine berufliche Zukunft. Außerdem habe ich dabei auch mein Heimatland Nordrhein-Westfalen, seine Menschen und mich neu kenngelernt.


Ermöglicht haben mir all das, neben meinem Mentor in der Redaktion, auch die vielen anderen Kolleg*innen im Landesstudio. Mit ihnen zu arbeiten und von ihnen zu lernen hat mir großen Spaß gemacht. Von kleinen handwerklichen Tipps, über spannende journalistische Anekdoten, bis hin zu beruflichen Plänen konnte ich mit ihnen über alles sprechen. Es sind diese Begegnungen, die Gespräche, die Unterstützung und das Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde, für das ich sehr dankbar bin.